UNTERSUCHUNG ÜBER DIE FRAGE
OB DER MENSCH DEM MENSCHEN HILFT

Hier ein Hörspiel nach einem Zwischenstück in Brechts "Baadener Lehrstück vom Einverständnis". Das Stück ist in einer Kooperation mit einigen Leuten von der Leipziger Theatergruppe "Der Keil" entstanden. Untenstehend finden sich mehr Informationen zum Hintergrund des Stückchens.

Download (mp3; 15.3 MB; 11:09 min)

Auszug aus der Brecht-Biografie von Werner Mittenzwei

Werner Mittenzwei schildert hier den Skandal, der sich 1929 bei den Musikfestspielen in Baden-Baden ereignete. Nachdem Brecht dort am Tag zuvor das Radiostück "Der Ozeanflug" (auch "Lindberghflug") aufgeführt hatte, fand auch die Uraufführung des Stücks "Badener Lehrstück vom Einverständnis" statt, das als Antithese zum Ozeanflug konzipiert war.

Am Tage darauf stand abermals ein Stück von Brecht mit der Musik von Hidemith auf dem Programm. Es hieß später „Das Badener Lehrstück vom Einverständnis“. Theamtisch knüpfte es an den „Lindberghflug“ an, indem es den Tod eines Fliegers zeigte und die Frage aufwarf „Wie hilft der Mensch den Menschen“. War das andere Stück die Erfolgsvariante, so dieses die Negativvariante. Das Verfahren von Entwurf und Gegenentwurf wandte Brecht in späteren Lehrstücken noch konsequenter an. In dem neuen Stück erreicht der Flieger sein Ziel nicht. Diese Aussage demonstrierte Brecht, der selbst Regie führte, mit unerbittlicher Härte und unter Aufbietung aller Mittel einer Ästhetik des Schreckens. Um die Todesfurcht oder, wie Brecht im Text verbesserte, die Sterbensfurcht szenisch zu realisieren, zeigte er zehn große Fotos von Toten, die den Zuschauer zwangen, sich den Tod genau anzusehen. Das Sterben sollte in seiner ganzen ganzen Unerbittlichkeit und Scheußlichkeit vor Augen geführt werden. Als das Publikum die Aufnahmen mit großer Unlust und Unruhe ansah, gab Brecht dem Sprecher die Anweisung, dem Publikum mitzuteilen: „Nochmalige Betrachtung der mit Unlust aufgenommenen Darstellung des Todes“. Die Bilder wurden wiederholt. Außerdem enthielt das Stück einen „Totentanz“, dargeboten von der Grotesksängerin Valeska Gert. Ihre Kunst wurde zwar allgemein gelobt und als große Leistung herausgestellt, aber in diesem Zusammenhang – es handelte sich um eine eingefügte Filmaufzeichnung – als unerträglich empfunden. Doch damit nicht genug, fügte brecht zur Erhärtung der vorgetragenen These, daß der Mensch dem Menschen nicht hilft, auch noch eine Clownsszene ein. Einen der Clowns spielte Theo Lingen, der seit einem Jahr mit Brechts geschiedener Frau Marianne verheiratet war. „Clown Schmidt war mit sich und allem unzufrieden und hatte dauernd psychische, aber auch physische Schmerzen, und seine beiden Begleiter, ebenfalls Clowns, rieten ihm, nun doch alle die Gliedmaßen, die ihn schmerzten, einfach abzuschneiden. Um das durchzuführen, hatte man mich auf Stelzen gestellt. Ich hatte verlängerte Arme und Hände, auch einen riesengroßen kopf, und konnte nur durch meine Chemisette, das aus Gaze bestand, etwas sehen. Im Laufe des Stückes wurden mir sämtliche Gliedmaßen kunstfertig amputiert. Mit einem Blasebalg, der Blut enthielt, mußte ich auch noch das Blut dazu spritzen: das war dem Publikum nun wirklich zu viel. Und als man mir dann noch den Kopf absägte, da ich über Kopfschmerzen klagte, brach ein Skandal aus, wie ich ihn nie wieder am Theater erlebt habe. Alles was nicht niet- und nagelfest war, flog auf die Bühne. Fluchtartig verließen meine Mitspieler den Schauplatz...“

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Das Werk gehört neben der kurze Zeit später geschriebenen „Maßnahme“ zu denen, die bis heute am meisten mißverstanden wurden. Man bezeichnete es ebenso als bolschewistisches Propagandastück wie als verstiegenes theologisches Werk über das Verhältnis zum Tode. Dabei ging man allgemein von der Fehldeutung aus, Brecht beabsichtige mit den Vorgängen eine ganz bestimmte Auffassung, ein philosophisches Bekenntnis zu illustrieren. Das Neue bestand aber gerade darin, daß über die vorgeführten Haltungen diskutiert werden sollte. Durch die Diskussion, vor allem durch Mitspielen hatte der Zuschauer herauszufinden, was zu bejahen und was zu verneinen sei. Nicht, was der Autor wollte, sondern zu welchem Schluß der Zuschauer kam, war wichtig: Hilfeverweigerung ist keine einzunehmende Haltung, sondern ein Diskussionspunkt; Armut, das Aufgeben aller Dinge keine Existenzweise, die einfach zu akzeptieren, sondern zu überprüfen ist; der Tod nicht mystischer Vorgang, sondern eine notwendige Einsicht in das Unvermeidliche, um ohne Angst leben zu können.

[Werner Mittenwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, Berlin/Weimar 1986, S. 315-17]